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Yukon - Good Will Hunting

23.08.2020


Good Will Hunting

Es ist der fünfte Tag der Reise, der dritte Paddeltag. Wir brechen unsere Zelte am Sediments Creek ab und beladen die Raftboote. Die Sonne scheint und es verspricht, ein weiterer wunderschöner Tag auf diesem Abenteuer-Trip „Down the Tatshenshini“ im kanadischen Yukon zu werden. Team Phyn ist inzwischen eingespielt, so dass wir mit unseren Michelin-Trockenanzügen ins Boot springen. Da der Fluss heute zahm sein soll, nehmen die Brüder Phil und Karl das Kanu, Bob und Pam bereiten ihr Zwei-Personen-Kajak vor und Linda testet das Pack Raft, ein kleines aufblasbares Kajak. Guide Jeremy ist im zweiten Pack Raft, um schnell und wendig zur Stelle zu sein, sollte was schiefgehen. Ein Boot nach dem anderen stösst sich in die Strömung ab. 

Jeremy ruft Anweisungen und gibt Sicherheitstipps und Strategien für das Ausbalancieren der Kajaks auf rollenden Wellen. Es ist halt schon ein Unterschied, ob man friedlich und entspannt auf einem See Kayak oder Kanu fährt oder einen Fluss mit schnell wechselnden Strömungen, überhängenden Ästen, überspülten Felsen wie eine Achterbahnfahrt runterfährt. Alle genießen aber die tolle Landschaft und den Adrenalin-Kick. Passend zur Stimmung taucht oben an der Klippe zum Steilufer ein Braunbär auf, betrachtet uns kurz und verschwindet dann wieder im Wald.


Weißkopfseeadler begleiten uns schon den ganzen Vormittag.
 
In unserer Snackpause informiert unserer Chefguide Will die Gruppe, dass wir nun in die Stromschnellen von Monkey Wrench kommen werden. Diejenigen mit mehr Wildwassererfahrung wollen unbedingt selbst fahren: Karl und Phil weiter im Kanu, Bob und Pam in ihrem Kajak und Judy übernimmt das kleine Pack Raft von Linda.
 
Wir sind das vierte der fünf großen Raftboote. Plötzlich hören wir einen lauten Schrei - Karl und Phil sind im Wasser! Sie wurden von einer großen Welle so getroffen, dass sich das Kanu aufgestellt hat und beide unweigerlich baden gegangen sind. Zum Glück sind beide unverletzt. Karl hatte keinen Trockenanzug an und ist damit völlig durchnässt, will aber bis zum Mittagessen weiter im Kanu bleiben. Also ... weiter geht's.
Nur ein paar Minuten später sehen wir plötzlich Judy, wie sie sich verzweifelt an ihrem kleinen Pack Raft festhält, das sie gerade abgeworfen hat, und damit flussabwärts schwimmt. Jeremy paddelt zur Rettung, schafft es aber selbst nur schwer, sein Pack Raft zu kontrollieren, während er Judy in das andere Boot und dann an Land schleppt. Ein Paddel schwimmt stromabwärts und das Führungs-Raftboot paddelt hart, um es abzufangen. Linda gelingt es, sich das Paddel zu schnappen, bevor es vorbeirast. Gerade als das Führungs-Boot ans Ufer will, sehen wir, wie auch Bob und Pam in hohem Bogen aus ihrem Kajak ins kalte Nass geworfen werden! Monkey Wrench hat damit alle drei kleinen Boote bezwungen. Glücklicherweise wurde keiner der gekenterten Paddler bei den Unfällen verletzt, und die Boote haben auch nichts abbekommen.
 
Will trifft beim Mittagessen die Chefentscheidung, dass jeder für den Rest des Tages in den großen Rafts sein muss, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Wir hätten noch eine ordentliche Strecke vor uns, um unseren Campingplatz für heute Nacht zu erreichen. Dies stellte sich als echte Untertreibung heraus... In den Canyons, durch die wir paddeln, bläst uns der Wind mit enormer Kraft ins Gesicht. Wir paddeln so fest wir können gegen den stetig zunehmenden Wind, der jetzt auch Sand und Schlammpartikel mitträgt, aber wir kommen nur langsam voran. Will scannt ständig den weitverzweigten Fluss, um herauszufinden, welche Trasse er nehmen muss. Es gibt viele Möglichkeiten und einige führen in Sackgassen, wo wir mit unseren Booten auf Sandbänken auflaufen würden.
 
Am späten Nachmittag gibt es keine Anzeichen dafür, dass der Wind nachlässt, nur unsere Kräfte... Will sieht den geplanten Campingplatz in der Ferne, merkt aber, dass sich der Fluss seit seiner letzten Reise so verändert hat, dass wir hier das Ufer nicht mehr erreichen können. Wir müssen also zum nächsten Platz in Towagh Creek weiterfahren.
 
Eine Stunde später nähern wir uns dem angepeilten Ersatz-Campingplatz, aber die Strömung ist hier extrem stark. Will winkt der Gruppe, sich zu beraten. Er weist die Guides an, Richtung Landeplatz zu paddeln. Er warnt davor, dass die Strömung stark ist und wir hart arbeiten müssen, um sicherzustellen, dass die Rafts nicht stromabwärts gerissen werden. Jeder ist bereit und vorbereitet. Da wir ein reines Frauen-Raft sind und unser Guide Phyn und ich die meiste Kraft haben, geben wir Vollgas. Meine Oberarme melden erste Anzeichen von Milchsäure, aber ich versuche die Paddeltechnik so zu verbessern, dass die Hebelwirkung mit Bauch- und Rückenmuskulatur optimal genutzt wird. Will im ersten Raft steuert das Ufer an und schafft es gerade so zu landen.
 
Als nächstes kommt Lindsay. Sie arbeitet hart mit ihren Paddlern, um ihr Raft Richtung Ufer zu lenken. Als sie es fast geschafft hat, wird sie plötzlich von einer Welle so gegen das erste Raft gedrückt, dass sie abprallt und zurück in die Strömung gerissen wird. In einem Bruchteil einer Sekunde ist sie stromabwärts gefegt. Will schreit seinem Team zu: "Alle rein. Wir müssen hinterher!" Der Rest der Rafts folgt. Wir alle sind erschöpft und schmutzig. Wir paddeln seit Stunden ohne Unterbrechung im unerbittlichen Wind. Die Leute werden müde, die Kräfte schwinden, aber niemand will sich beschweren. Wo sollen wir hin? Wir haben die beiden Campingplätze passiert, die Will kennt. Ab jetzt müssen wir einen neuen Platz finden und es wird schon langsam dunkler. Noch einmal sammelt Will die Rafts an einer seichteren Uferstelle zusammen, um sich zu beraten. Er erklärt, dass wir jetzt nach einem Lagerplatz suchen müssen, der nicht auf der Flusskarte angegeben ist. Er würde der Gruppe signalisieren, wenn er einen Platz findet und die beiden ersten Rafts starten in die Strömung. Dann sind wir dran. Wir Mitpaddler sind alle schon im Boot, nur Guide Phyn ist noch am Ufer und schiebt uns raus - das Bootsseil fest in ihrer Hand. Plötzlich werden wir ruckartig von einer Welle erfasst und Phyn hat keine Chance mehr, ins Boot zu springen. Sie versucht noch am Ufer mitzulaufen und das Boot am Seil zu halten. Aber der Fluss ist stärker. Die Guide-Grundregel „Lass nie Dein Boot los“ zwingt sie dazu, ins eiskalte Wasser zu springen und hinter unserem Boot herzuschwimmen, das Seil fest in der Hand. Stück für Stück zieht sie sich am Seil zu unserem Boot. Ich paddel mit aller Kraft rückwärts, um unsere Geschwindigkeit zu verlangsamen, während die anderen ihr ins Boot helfen. Völlig durchnässt packt sie sofort die großen Ruder und bringt das Raft unter Kontrolle. Wir feiern Phyn als unsere Heldin! Aber wir haben immer noch keinen Nachtplatz…

Die Energie des Tages hat sich in resignierte Erschöpfung verwandelt, als wir weiter nach einem Campingplatz suchen. Wills Gesicht zeigt Besorgnis und völlige Konzentration. Er redet nicht. Er durchsucht die Flussbänke ununterbrochen nach einem geeigneten Ort, an dem er anhalten kann. Viele Plätze sind aufgrund des niedrigen Wasserstandes nicht zugänglich, wir würden dort nicht mehr wegkommen.
Endlich, gegen 21:30 Uhr, hellt sich Wills Gesicht auf und er ruft: "Da! Das ist unser Platz! " Er gibt den Signalruf "Coo-ee!" und zeigt ans Ufer. Die anderen Rafts vor uns landen eines nach dem anderen an und entlädt seine müden Reisenden. Wir sind das letzte Raft – und verdammt weit weg vom Ufer, da wir den Spontanentschluss hier anzuhalten zu spät gehört haben. Phyn schreit uns an „Back paddle hard! Harder! Come on – we gotta do this!“ Ich sehe überhaupt nicht, wo wir hinfahren, sondern paddle mit maximaler Anstrengung rückwärts. Ich konzentriere mich nur noch auf meine Paddelbewegung mit aller Kraft, die noch in meinem Körper steckt. Die leicht panischen Motivationsschreie unseres Guides sagen alles… Die Strömung trägt uns an den anderen und dem Landeplatz vorbei. Wir hören ihre Schreie „Oh no! They not gonna make it!“ Alle stellen sich vor, wieder in die Rafts steigen zu müssen und weiter in die Nacht zu paddeln. Es gilt „Einer für alle, alle für einen“. Ich paddel nach wie vor unter Höchstleistung und stosse bei jedem Paddelschlag einen Kraftschrei aus. Noch ein paar Meter! Endlich kann Phyn rausspringen und das Boot an einem Baum festzurren. Völlig erschöpft schaue ich mich um. Wir sind etwa hundert Meter weiter flussabwärts als die anderen, aber man kann am Ufer hinlaufen. Nur ein paar Meter weiter wäre ein Seitenarm des Flusses gewesen, der uns den Weg zum Camp unmöglich gemacht hätte. Die Gruppe jubelt und kommt auf uns zugelaufen. Endlich sind wir alle an Land!
 
Unsere Gesichter sind verdreckt und die Hände sind rissig und schwarz wie die eines Automechanikers. Ich kann meine Arme kaum noch spüren. Völlige Erschöpfung ist Paddlern und Guides gleichermaßen anzusehen. Wir lachen müde und erleichtert darüber, dass der Tag vorbei ist. Rafts werden entladen und das Lagerfeuer angezündet. Will hat in weiser Voraussicht schon bei vorherigen Stopps Feuerholz gesammelt und auf den Rafts vertäut. Mit langsamen Bewegungen baue ich mein blaues Zelt auf, blase meine Schlafmatte auf und rolle den Schlafsack aus. Am liebsten wäre ich sofort umgefallen, hätte ich nicht noch so einen Bärenhunger nach all der Kraftanstrengung. Eine Katzenwäsche an einer klaren Stelle im Fluss hilft, wenigstens den gröbsten Schmutz von Gesicht und Händen zu bekommen. Dann treffen wir uns für Getränke und ein schnell zubereitetes, herzhaftes Abendessen: Burritos mit baked beans – göttlich! Inzwischen ist es 22.30 Uhr. Heute sind wir fast 11 Stunden auf dem Fluss gewesen…
 
Will sieht sich stolz im Kreis der müden Krieger um: „Das war ein echt ereignisreicher und anstrengender Tag. Herzlichen Glückwunsch an alle, wir haben es gemeinsam geschafft und toll zusammengehalten. Vielen Dank an Euch! So, und dieser Zeltplatz hier ist neu für uns. Er braucht einen Namen. Hat jemand Vorschläge?“ Es gibt einen Moment der Stille. "Wie wäre es mit" Good Will Hunting "? schlägt Cindy vor – in Anlehnung an den Film mit Robin Williams und Matt Damon. Alle sind einstimmig dafür. Wir trinken auf das Ende eines langen Tages und auf die Taufe eines neuen Campgrounds.
Um Mitternacht schreibe ich ein paar kurze Zeilen in mein Tagebuch und falle dann ins Koma…

Von diesem Tag gibt es kaum Fotos wie ihr Euch vorstellen könnt. Da dies aber die letzte Yukon-Geschichte ist, hier noch eine kleine Bilderreise vom Rest des Trips bis zu den Gletschern und Eisbergen - und jeder Tag war ein neues Abenteuer... Das Leben ist schön! Erinnert Euch in diesen Zeiten an all die einzigartigen Eindrücke und Highlights Eures Lebens!